„Blue Rock Thrush“ Frankfurter Rundschau, 6. Juli 2016

Uwe Dierksen „Blue Rock Thrush“
Wo sich die Felsendrossel versteckt
Hans-Jürgen Linke

Der Posaunist und Komponist Uwe Dierksen und sein nicht geradeaus gehendes Album „Blue Rock Thrush“.

Das Bühnenleben von Musikern, die ein Instrument mit Kesselmundstück spielen, ist voller Risiken. Denn die so genannten Blechblasinstrumente sind kaum mehr als eine Verlängerung und Verstärkung dessen, was Musiker mit Lippenspannung, Stimme, Atem, Arm und Gehör selbst tun und sind. Uwe Dierksen, seit über drei Jahrzehnten Posaunist des Ensemble Modern, ist nach all den Jahren immer noch begeistert: „Du bist ungeschützt. Jede Art von zu viel Aufgeregtheit, wenn du etwa keine Spucke mehr hast oder keinen Ansatz mehr oder in Atemnot gerätst, ist sofort hörbar, da ist jedes Blechblasinstrument gnadenlos. Das klingt dann nicht nur ein bisschen nicht gut. Auch dadurch hast du großartige Ausdrucksmöglichkeiten auf der Bühne.“

Dierksen spielt nicht nur die Musik anderer, er schreibt Hörspiele und Filmmusik; 2010 erschien seine Solo-Doppel-CD „ROOR“, und immer öfter tritt er inzwischen als improvisierender Musiker auf. Das Wort „Jazz“ würde er für das, was da gespielt wird, allerdings nicht verwenden. Seine Haltung zur Improvisation schöpft er aus seiner Erfahrung mit zeitgenössischer komponierter Musik.

Erwartungen absichtsvoll verfehlen

Dass das Album „Blue Rock Thrush“, das Dierksen mit seiner Projekt-Band Mavis aufgenommen hat, ein Jazz-Album sein würde, war also nicht zu erwarten. Es ist aber auch manches andere nicht. Positiv beschrieben, handelt es sich um anspruchsvoll und raffiniert komponierte Neue Musik, die sich Masken aufsetzt. Sie verwendet klangliche und melodische Korsagen, um dahinter andere Formen und Ebenen zu verbergen. Oder erscheinen zu lassen. Die Erwartungen der Hörer werden nicht enttäuscht, sondern überrascht oder übertrumpft, also absichtsvoll verfehlt.

Schon der Titel legt raffiniert eine falsche Fährte. Die Worte „blue“ und „rock“ eröffnen einen bestimmten Assoziationskreis. „Blue Rock Thrush“ aber ist der englische Name der in Ostasien heimischen Blauen Felsendrossel und könnte auch ein versteckter Verweis auf den Ornithologen, Franziskaner-Priester und Komponisten Olivier Messiaen sein, der einen Teil seines Werkes als Reformulierung von Vogelstimmen in einem elaborierten instrumentalen Kontext konzipiert hat. Die Blaue Felsendrossel kommt bei ihm zwar nicht persönlich vor, aber sie ist eine nahe Verwandte der bei uns weit verbreiteten Schwarzen Amsel, der Merle noir, der Messiaen 1951 ein Stück für Klavier und Flöte gewidmet hat.

Dierksens markante Komposition „Birdcrunch“ zum Beispiel basiert unter anderem auf einer Tonbandkassette, die in englischer Sprache volkshochschulhaft eine Bestandsaufnahme der Vogelwelt Thailands unternimmt; wer mag, kann sich an Messiaens Zyklus „Oiseaux exotiques“ erinnert fühlen.

„Birdcrunch“ klingt auf den ersten Höreindruck nach Hard Rock. In der Rhythmik allerdings geht es nicht nur geradeaus, die Metren wechseln fliegend, und nicht nur die. Unter der brodelnden Oberfläche liegen Zitate (etwa des britischen Komponisten Harrison Birtwistle) und Verweise, die den Einzugsbereich dieser intelligent angereicherten Popmusik an neue Horizonte dehnen. Kolleginnen und Kollegen aus der Neue-Musik-Branche und die wunderbare Sängerin Claron McFadden helfen mit allem, was sie können.

Uwe Dierksen: Blue Rock Thrush. Variations on Pop. Intuition / Schott